Der Schandschüler


Die Disziplinierung und Normierung beginnt nicht im Klassenzimmer. Sie beginnt mit der Zeit, wann und wo Schüler*innen sein müssen. Um 8 Uhr auf ihren Plätzen. Die Schulglocke als schrilles Warnsignal, jetzt hört der Spaß auf, jetzt heißt es still sitzen, zuhören und lernen. Die Tische sind so angeordnet, dass der Blick nach vorne zielt zu einem der wichtigsten Machtinstrumente der Lehrperson, die dunkelgrüne Tafel. Dort möchte man nicht sein, der Weg Richtung Tafel ist für den Schandschüler (wie ich es einer war), wie der Leidensweg Jesu Christi zum Kreuz. Die alleinige Vorstellung, dass man sich vor der ganzen Klasse bloßstellt, kann gleichgesetzt werden mit absoluter Nacktheit im öffentlichen Raum. Falls man doch vorgerufen wird, damit Wissen überprüft werden kann, ist die Kreuzigung gewiss. Die Kreide in der Hand möchte man etwas schreiben, man setzt an und schreibt das erste Wort, die erste Zahl. Ein Kichern geht durch den Raum, ein Räuspern der Lehrperson, man hält inne, wartet, schwitzt, versagt, wird zurechtgewiesen und  setzt sich wieder.

Die Uhr besagt, dass im Klassenraum Zeit wie gekauter trockener Lebkuchenteig im Mund verarbeitet wird, nämlich gar nicht. Klingelt es dann doch zur Pause nach gefühlten vier Stunden, beginnt das kurze, unschuldige, begnügsame Leben. Die Pause ist das Kokain der Schüler*innen, die Pause ist der Garten Eden, die Pause ist die Illusion, dass man frei ist. Doch auch dort wird überwacht. Lehrer*innen am Gang mit strengem Blick, läufst du zu schnell wirst du geblitzt und zahlst die Strafe, nämlich den direkten Weg zurück in deinen Stock, in deine Klasse. 

Mit einem schrillen Klang endet die Freiheit. Zurück im Klassenraum kommt es zur nächsten Überprüfung durch das berühmte Werkzeug dem Klassenbuch. Wer ist da, wer fehlt, wer hat einen Klassenbucheintrag.

Doch es kommt noch schlimmer. Schularbeit ist angesagt. Das wahre Grauen hat einen Namen: Mathematikschularbeit! 50 Minuten lang wird etwas überprüft, was weder Sinn ergibt noch im Lebensalltag gebraucht werden kann. Außer man interessiert sich dafür. Viel schlimmer als die Schularbeit an sich, ist die Rückgabe der Schularbeit. Sadistische Lehrpersonen lesen die Noten vor. Aber mit eiskaltem Kalkül, nämlich beginnend bei den Sehr Guts. Du betest, obwohl du nicht weißt was beten überhaupt bedeutet. Du betest, dass dein Name bei den Genügend fällt. Aber er fällt nicht und so fällst du tiefer in den Alptraum eines Schandschülers, denn aus deiner Note resultiert, dass du die nächsten Tage den Nachmittag nicht im Park mit deinen Freunden verbringen wirst, sondern zuhause lernend, da deine Eltern auch Supporter des Systems der Normierung und der Disziplinierungsmaßnahmen  sind. 

Dem Gefängnis Zuhause folgt ein Elternsprechtag. Dort wird besprochen, warum du nicht zur Norm angehörst, dort wird besprochen wie man dich gezielt brechen kann, dass du es schlussendlich doch tust.